Willy Rotzler
Farbsehen und Farberleben als Mittel der Selbsterkenntnis
Unser Gespräch beginnt nicht vor dem Stapel Bilder, die zum Transport bereitstehen. Elena Lux-Marx führt mich ins Nordlicht-Atelier, wo auf zeichentischartiger Staffelei ein großformatiges, halbfertiges Bild zu sehen ist. Nicht eigentlich das Bild ist zu sehen, vielmehr sein Werdeprozess: die obere Hälfte ist praktisch fertig; auf der unteren Hälfte lassen sich verschiedene Etappen der Bildherstellung erkennen. Auf der sorgfältig grundierten Leinwand ist regelmäßiges Gitterwerk aus kleinen Quadraten mit der Ziehfeder gezeichnet. In diese Felder werden nach vorbedachtem Plan flächendeckend in regelmäßigen Abstufungen die Farben gesetzt, von Feld zu Feld aufgehellt oder verdunkelt. Ein langsamer, langwieriger Malprozess, der aber einzig mögliche, um zum Bild zu kommen.
Von diesem werdenden Bild her sind das Betrachten, Erfassen und Durchdringen der anderen großformatigen Bilder erleichtert. Es lässt sich nun genau nachvollziehen, wohin das Bildermachen geführt hat: zu horizontal-vertikalen Bildstrukturen, zu Feldern aus systematisch streifigen Farbbändern oder kreuzweise sich durchdringenden, gitterartigen Farbstrukturen. Welche Vielfalt der Eindrücke bei relativ gleichbleibendem einfachem Prinzip! Vor allem wird deutlich, dass Elena Lux-Marx nicht Formstrukturen entwickelt, die nachträglich koloriert werden. Die Farbe (oder Farbform) steht ganz im Vordergrund. Formale Flächenstrukturen haben nur die Aufgabe, das Leben der Farbe überhaupt schaubar zu machen. Merkwürdig, wie je nach Anzahl der Grundfarben, die in einem Bild miteinander ins Spiel gebracht sind, die systematische Aufhellung oder Verdunkelung das leise atmende oder heftig pulsierende Leben der Farbe bewirken. Da gibt es Bilder, an deren Kristallisationspunkten absolut reine Farbe aufblüht, ja geradezu aufschreit. Es gibt andere, trübere Zonen, wo der Eindruck entsteht, durchlässige Nebelzonen dämpfen die Farben, lassen sie nur noch flüstern und murmeln. An diesem Punkt des Betrachtens wird klar, dass es der Malerin ausschliesslich um die Farbe geht, um das Bild als Farbgegenstand. Was sie in minutiöser, beinahe mönchischer Arbeit fertigt, wird keineswegs als Programm vor uns hingestellt.
Die Bilder sind Aufforderungen an uns, unser Farbsehen und Farberleben zu vertiefen, unsere Fähigkeiten zu schärfen für ein Genauer- und ein Tiefersehen. Und das könnte dienlich sein als Mittel der Selbsterkenntnis.
Text anlässlich der Ausstellung Elena Lux-Marx Konkreter Sensualismus, Kunsthaus am Moritzplatz, Berlin 1994
Willy Rotzler (1997-1994), Kunstkritiker, Konservator, Kunst-Publizist, war Kurator des Zürcher Kunstgewerbemuseums, später Herausgeber der Zeitschrift du und Präsident des Ausstellungskomitees des Zürcher Kunsthauses.