H. J. Albrecht: Aktionen, Interaktionen

Hans Joachim Albrecht

Das Bild als Träger farbiger Aktionen und Interaktionen

Elena Lux-Marx, eine konkrete Malerin der jüngeren Generation — von ihr können wir keine „Komposition“ erwarten, die das Bild nach formalen Plänen anlegt. Hier bleiben die stets unverzichtbaren Flächengliederungen unbetont, da sie sich, einfachen additiven oder seriellen Regeln folgend, an die beiden Dimensionen des rechtwinkligen Formats halten. Doch gerade dadurch ermöglichen sie allseitige nachbarschaftliche Beziehungen, allerorten verbinden und trennen sich die Glieder bzw. Elemente, um sich endlich über das gesamte Bildfeld hinweg zu verketten und zu vernetzen. – Kurz gesagt: Anstelle der „Komposition“ von farbigen Bildteilen richtet sich alle Aufmerksamkeit auf ihre engsten Kontakte, auf ihren Verbund oder „Konnex“, der einem echten Strukturbegriff folgt. Die „Ausgangskonzeption“ begründet, einem genetischen Code vergleichbar, den malerischen Akt und setzt ihn in Gang.

Farbereignisse im Bildfeld

Nicht stofflich qualifizierte Farbsubstanzen, sondern sozusagen farbige Lichtreize bestimmen unsere Begegnungen mit den Bildern von Lux-Marx. Frei von gegenständlichen Assoziationen beginnt ein Dialog zwischen Farbfeld und Auge, ein unmittelbares Zwiegespräch entspinnt sich, das subjektive Regungen und Empfindungen immer stärker evoziert. Das persönliche Erleben farbiger Ereignisse im Bildfeld erscheint wesentlicher als irgendein manifester „Gehalt“.

Diese konkrete Malerei bereitet „Sehvergnügen“, die Lust am delikaten Abwägen der Farben teilt sich mit, das exakte Austarieren macht Staunen. Die Bilder sind – über ihre gewissenhafte konstruktive Unterlegung hinaus – ganz dem sensiblen Auge gewidmet, sie sind ihm zugetan, sobald es schauen will. Ornamentaler Kunst ähnlich, bedürfen sie keiner anstrengenden Analyse der bilderzeugenden Verfahren, sondern bewusster Hingabe an das Farbereignis. Es sind Bilder, die unser Sehen durch stark fluktuierende Farbraster erregen, die sich kaum merklich, ja, sagen wir „lebendig“, verschieben oder die sich im gleichbleibenden Rhythmus identischer oder ähnlicher Sequenzen beruhigen. Wieder andere Bilder fordern uns heraus durch subtile Farbpläne, die im Licht oder im Dunkel fast aufgehen, und denen nur geduldiges Schauen zu folgen vermag.

Strukturierung der Farbfelder

Beim ruhigen Betrachten eines Bildes, das wie 5th Gradation-Intensity, 1977, aus kleinen Rechtecken gleichsam gewirkt ist, tritt ein feines „Gewebe“ aus Farben hervor. Stellenweise heben sich diese Standards in den querlaufenden Reihen klar voneinander ab, doch anderswo gehen sie ineinander über. Dabei sind die Schritte in den chromatischen wie auch achromatischen Reihen manchmal so gering, dass sie kontinuierlich zu verlaufen scheinen und ein Verschmelzen sich tangierender Farben begünstigen. Die so genannten „komplementären“ Farben trüben sich schrittweise durch gegenseitiges Kompensieren und bilden über diese neutrale Brücke durchgehende Bewegungen. Ebenso lassen sich bunte Farben in unbunte überführen, indem etwa ein Rot Stufe für Stufe in eine bestimmte Hell-Dunkel-Skala eintritt und — welche Überraschung – als Blau wieder auftaucht. Wenn sich Übergänge dieser Art an den Bildrändern vollziehen, können dort parallel verlaufende Reihen innehalten, da sie sich über ihre äußersten Glieder seitlich verknüpfen. Diese Kehren, die wie Scharniere (Klavierbänder) wirken, bestätigen die Grenzen des Formats. Dazu noch etwas mehr am Schluss. – Bei einigen Bildern zeichnen sich aufgrund der Phasenverschiebungen der Farbreihen „Superierungen“ ab, die beispielsweise bei The Tantric, 1978, noch deutlicher hervortreten als vergleichbare übergreifende Zeichen bei den großen Seriellen Ordnungen von Richard Paul Lohse, der uns hier schon länger über die Schulter schaut.

Wegweisende Maler

Eine Stärke der Konkreten Kunst ist ihre bereits über drei Generationen reichende Tradition. Und weil sie auf objektivierbaren Grundlagen bewusst überindividuelle Ziele anstrebt, bleibt sie fruchtbar, so auch im Werk von Elena Lux-Marx. Ihre geistige Beziehung zur Systematisch Konstruktiven Malerei von Lohse ist offensichtlich. Sie hat ihn persönlich gut gekannt, und er hat sie geschätzt. Das gewichtigste Erbe – noch vor dem Modularen Prinzip – ist sein Serielles Prinzip mit streng wie auch zufällig (permutativ) geregelten Abläufen systematischer Farbreihen bzw. „Farbketten“. Außer der von Gegenfarben ausgehenden Strukturierung hat Lohse gern die Mengengleichheit der Farben herausgestellt, im besonderen Respekt vor ihrer Egalität, und auch Lux-Marx greift dieses Prinzip zuweilen auf. Selbst Abmischungen mit Weiß und öfter noch mit Schwarz gehören in gewissen Werkphasen zu Lohses Malerei. Hinzu kommt die luminöse Wirkung der Farben, erreicht durch ihren mehrfachen homogenen Auftrag. – Doch wir haben es sicher schon bemerkt: Bei aller strukturellen Verwandtschaft zeigt sich ein erheblicher Unterschied im Zusammenfügen und Vernetzen der Bildelemente. Die einzelnen Farben behalten bei Lux-Marx nicht jene Identität, jedenfalls nicht überall im Bild, die Lohse seinen Standards stets zu bewahren verstand (etwa durch gegenfarbige Konterstellungen und klare Phasenverschiebungen).

Kaum überraschend nennt die Malerin selbst einen weiteren Ahnherrn, den sie über sein einflussreiches Lehrwerk Interaction of Color bereits während ihrer Berliner Studienzeit schätzen gelernt hat. Seit langem vertraut ist ihr daher das Ausspielen farbiger Wechselwirkungen, die Josef Albers selbst in seinem malerischen Werk zur Hauptsache gemacht hat. Die Nähe zur Interaction zeigt sich aber nicht allein in den immer wieder erstaunlichen simultanen Verschiebungen zwischen Paaren und in Gruppen von Farben, sondern auch in stabileren Relationen, wie etwa beim sogenannten „Rilleneffekt“ (4 x 4 Duale Bilder Green I, 1995), bei Transformationen von Farbgruppen (von Down Mayan Danda, 2001 zu Into Terrai, 2002) oder bei scheinbarer Transparenz durch genau abgestimmte Zwischenmischungen (Tropic, 1975).

Dennoch schafft Lux-Marx durch die Farbenvielfalt ihrer meisten Bilder einen klaren Abstand auch zu Albers, dessen Varianten sich jeweils auf kleine Gruppen handelsüblicher Farben beschränken. Dieses ökonomische Kriterium hilft ihm, die periodischen Wandlungen seiner Farben im Bildgefüge zu kontrollieren und überschaubar zu halten sowie, darüber hinaus, die Betrachter von der grundsätzlichen Relativität ihres Wahrnehmens und Urteilens zu überzeugen.

Welchen generellen Gewinn für ihre malerische Konzeption hat nun Elena Lux-Marx aus der Wahlverwandtschaft mit diesen beiden Meistern gezogen? Die Zürcher Konkreten bevorzugen die evidenten, unmittelbar wahrzunehmenden Farbrelationen, speziell solche Farbstellungen, die bedeutungsfrei erscheinen. Offensichtliche Beziehungen im Bild, die jedermann betrachtend auskosten soll, nuanciert Lux-Marx mit hoch empfindlichem Blick. In einzelnen Bildern steigt, ihren operativen Verfahren entsprechend, die Zahl der definierten Farben. – Demgegenüber sind die emotionalen Effekte der funktionalen Relationen, die sich über neuronale („synästhetische‘“) Verknüpfungen bzw. „Gedankensprünge“ einstellen, beim Erleben von Bildern viel schwerer zu erfassen oder sogar zu erklären, besonders bei fluktuierenden, instabil wirkenden Farben.

Die Gewohnheit der Malerin, ihre Bilder zweifach zu betiteln, zeigt einen Positionswechsel an zwischen Beginn und Abschluss der Arbeit. Sie verweist auf eine alternative Einstellung zu ihren Werken: Der Arbeitstitel bezieht sich — wie bei Lohse — auf das konstruktive Bildprogramm, der Werktitel — wie von Albers bevorzugt — auf Anmutungen und assoziative Empfindungen. Ein „diszipliniertes Schwelgen“ könnte man das malerische Ergebnis nennen.

Von einem weiteren theoretischen Anstoß ihrer Malerei hat Lux-Marx einmal berichtet. Vor der Ausführung ihres Traumbildes (1987) greift sie zurück auf die Kunst der Farbe von Johannes Itten, und dort speziell auf seine Definition der „Komplementärfarben“. Zum einen, sagt Itten, noch ganz im Sinne Goethes, stehen diese für die Totalität des Farberlebens, doch zum zweiten muss sich ihre Polarität in einem neutralen Grau erweisen, das aus dem Vermischen ihrer Farbpigmente bzw. Farbstoffe resultiert. Die Unmöglichkeit, eine solche theoretische Forderung vollständig zu erfüllen, erkennt Elena Lux-Marx nach systematischen Mischversuchen, und die Anschauung lehrt sie, dass sich „‚monochromes Grau“ auf diese Weise nicht herstellen lässt. 

(Fraglich ist weiterhin, eben wegen der begrifflichen Unschärfe, ob tatsächlich nur eine einzige Farbe „komplementär“ zu einer zweiten sein kann.)
(Eine hochbetagte Dame, Studentin einst von Itten in Krefeld, erzählt übrigens, wie sie und ihre Mitschülerinnen ihren Lehrer getäuscht haben, indem sie trickreich eine neutrale Graustufe anstelle der erwarteten mittleren Mischung „komplementärer“ Farben eingeschoben haben.)

Zur Idee der Farbentotalität

Ein kurzer, aber aufschlussreicher Rekurs führt uns direkt zurück zu Philipp Otto Runge, da Johannes Itten dessen Farbenkugel als theoretisches Modell weitgehend übernommen hat. Runge selbst hat jedoch einen tiefen Zwiespalt empfunden zwischen seiner aus Körperfarben gemischten, abstrakten Farbenkugel und der Lebendigkeit des allgegenwärtigen „Totaleindrucks“. Um diese Kluft zu überbrücken, trifft er die Unterscheidung zwischen „durchsichtigen und undurchsichtigen Farben“. Folglich bewegt ihn die Vorstellung einer gläsernen Sphäre, deren Farben sich beim Bemühen um Durchsicht gegenseitig im tiefen Dunkel aufheben müssen, sofern kein erhellendes Licht darin eindringt. Der bunte Farbenkreis versinkt demnach, doch gleichzeitig dehnt sich vor unseren Augen eine unabsehbare „lebendige Qualität“ aus. „Mittelpunkt und Pole fallen in eins zusammen“, schreibt Runge, und ergeben den „grauen Indifferenzpunkt“.

Auf die Imaginationen Runges und seine religiösen und metaphysischen Interpretationen geht Itten nicht weiter ein. Recht pragmatisch gründet er seine Auffassung von Harmonie und wohl geordneter Farbakkordik auf dem mittleren neutralen Grau, indem er schreibt: „Zwei oder mehrere Farben sind harmonisch, wenn sie zusammengemischt ein neutrales Grau geben.“ (Itten, KdF, S. 22) – Allem Anschein nach hat sich Lux-Marx am Missverständlichen dieser These so lange abgearbeitet, bis etwas „Fruchtbares“ für ihre Malerei herausgekommen ist. Denn das tätige Auge sträubt sich gegen mechanische Vorgehensweisen.

Die Malerin hätte vermutlich einen Mentor in Paul Klee finden können, der jenen „grauen Indifferenzpunkt“ Runges als „totales Zentrum“ und zugleich als eine ‚absolute Unentschiedenheit“ auffasst. Klee befindet sich sogar in spürbarer Nähe zu Runges metaphysischen Implikationen, wenn er vom „Schicksalspunkt für Werden und Vergehen“ spricht. Und im „Chaos“ dieses zentralen Punktes ist der „Kanon der farbigen Totalität“ enthalten. Besonders interessiert Klee das dynamische Wechselverhältnis der Farben, und dringend dabei die Frage, wie weit zwei („komplementäre“‘) Kontrastfarben zueinander vordringen können, z. B. Rot auf Grün zu und umgekehrt Grün auf Rot zu.

Hierhin passt eine persönliche Erinnerung. Bei einem gemeinsamen Besuch im Rijksmuseum Kröller-Müller, Otterlo, betrachtete R. P. Lohse lange das Blatt eines Busches, das unwahrscheinliche Färbungen zwischen Grün und Rot vereinte. Nachdenklich bemerkte er, dass solch ein Farbverlauf kaum zu malen sei. Zwar erleichtert die strikte Regelmäßigkeit in einer Farbfolge das Unterscheiden derartiger Nuancen. Wie aber erstaunt Elena Lux-Marx alle Empfänger ihrer aktuellen Einladungskarte, wo ein Detail aus Coming Together, 2003, kaum glaubliche Mischungsreihen zeigt!

Über den empfindsamen Farbsinn lässt sich noch ein Bogen ins 19. Jahrhundert schlagen, gestützt auf die schon angesprochenen Positionen von Klee und Albers. Besonders C.D. Friedrich hat sich unablässig mit den Lichtfarben auseinandergesetzt, die er – vor jeder spekulativen Deutung – als Phänomene in der Atmosphäre beobachtet haben muss. Als säkularisierte Zeitgenossen begnügen wir uns heute meistens mit dem sichtbaren Bestand romantischer Gemälde. Auf ihnen sind durch Vertreiben verdünnter Malfarben wunderbare Übergänge gelungen, vor allem bei der Darstellung von Himmelsfärbungen, die von Blau/Violett über lichtgraue Zonen zu Orange/Gelb wechseln. Mit sicherem Gespür für Kontraste sind auch Rosa zu Dunkelgrün, und immer wieder Hell gegen Dunkel gesetzt.

Entgrenzung und Bildeinheit

Gemälde romantischer Maler widerstehen dem Auseinanderdriften durch ihre symmetrischen Kompositionen und durch die erstrebte Farbentotalität. Deshalb laden sie auch hinsichtlich der Bildproblematik Entgrenzung : Erlebniseinheit zu Gegenüberstellungen mit den Bildern von Elena Lux-Marx ein.

Lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf diese immer noch aktuelle bildnerische Aufgabe: Parallele Linien in der Horizontalen oder Vertikalen – und überhaupt alle Flächenraster – können das Bildfeld zwar vorordnen, aber nicht limitieren. Es stellt sich als Ausschnitt unbegrenzter Ausbreitung dar und würde sich ohne anschaulich definierte Grenzen verlieren. Aus diesem Grund können nur die jeweils ausgewählten Farben und ihre Verteilung im Bild seine visuelle und emotionale Einheit herstellen. Lux-Marx weiß um diese Notwendigkeit, schätzt sie doch bei Giorgio Morandi das „Universum in jedem Bild“. Jedes ihrer Gemälde kann nur durch seine Farbigkeit ein ganzes Erlebnis erwecken. Die zwei Varianten 15th und 16th Gradation-Intensity, 1976, sind gute Beispiele für eine visuelle „Verankerung“ des sonst unlimitierten Bildplans. Auf und ab zirkulierende, systematische Farbreihen (aus je 32 Elementen) kreuzen und durchdringen sich mit einem gleichfarbigen Doppelzyklus aus 32 spitz auslaufenden Streifen. — Kein Einzelbild obendrein ist absolut zu sehen. Jedes besondere Erlebnis hat ja seine Stelle vor und nach anderen Erlebnissen. Diese Einsicht, die auch Josef Albers geleitet hat, gibt der Endlosigkeit der Varianten ihren Sinn. Bei Elena Lux-Marx sind es Paare und Werkreihen, in denen sie ein entfachtes oder verhaltenes, in seiner Komplexität rätselhaftes Leuchten in die Konkrete Kunst einbringt.

Vortrag anlässlich der Ausstellung Elena Lux-Marx Zeit & Stille in Rapperswil, 2004.

Hans Joachim Albrecht, deutscher Bildhauer, Zeichner, Hochschullehrer und Autor, lebt und arbeitet in Krefeld (D), Publikationen u.a. Farbe als Sprache. Robert Delauney – Josef Albers – Richard Paul Lohse,  Dumont, Köln 1974. Hans Hinterreiter. Ein Schweizer Vertreter der konstruktiven Kunst Waser, Buchs/Zürich 1982. Richard Paul Lohse. Modulare und serielle Ordnungen, Waser, Zürich 1984. http://www.albrecht-skulptur.de