W. Marx: Was Farben geschieht

Wolfgang Marx

Was den Farben geschieht

Bilder haben schon immer etwas erzählt, und sie haben damit auch nie aufgehört. Nur hatten wir uns so lange daran gewöhnt, dass das Geschichten aus der Welt der Menschen und der Dinge sind, dass wir, als die moderne Kunst andere Wege einzuschlagen begann, Mühe hatten zu akzeptieren, dass Bilder auch von ganz anderen Sachen und Sachverhalten erzählen können, von den Wundern der Struktur zum Beispiel, von den Abenteuern des Lichts oder eben auch, und darum geht es hier und heute, von den Schicksalen der Farben.

Es soll also im Folgenden vom Sehen die Rede sein, vom Sehen von Farben. Tatsächlich zeigen diese Bilder um uns herum – und ich werde noch erklären, auf welche Weise sie das tun — dass der Mensch keine passive Abbildungsmaschine im Kopf hat, keinen Apparat, der schlicht registriert, was da ist und so ist. Das hatte man ja noch in der Antike so gesehen und auch noch im Mittelalter, dass sich von den Dingen hauchfeie Bildchen ablösen und durch die Augen (Conrad Ferdinand Meiers „liebe Fensterlein“) fix und fertig in unseren Kopf fliegen.

Heute wissen wir, dass Sehen kein passives Empfangen ist, sondern ein aktives Tun. Wir machen die Bilder, auch wenn wir nicht wissen, dass und wie wir das tun, weil wir uns beim Sehen nicht zusehen können. Die Kognitive Psychologie nennt solche Prozesse, die der Selbstbeobachtung nicht zugänglich sind, „subpersonale Prozesse“; und die Arbeit der Wahrnehmungspsychologie besteht zu einem guten Teil darin, diese Prozesse zu rekonstruieren, also herauszufinden, wie wir es machen: zu sehen.

Unsere „Augen-Hirn-Maschine“

Soweit wir das bis heute verstanden haben, improvisiert die „optischer Apparat“ genannte Augen-Hirn-Maschine an Hand weniger physikalischer Reize (im Falle der Farbwahrnehmung sind das elektromagnetische Schwingungen aus einem vergleichsweise engen Frequenzbereich) ein Bild einer möglichen Welt. (Der Akzent liegt auf „möglich“.) Dass dieses Bild so schön ist, dass es herrliche Landschaften, wunderschöne Blumen, grandiose Sonnenuntergänge enthält und zehntausend andere schöne Dinge mehr, ist ein Verdienst des Gehirns, das die Welt so macht, wie wir sie sehen. Josef Beuys hatte also durchaus Recht, als er behauptete, jeder von uns sei ein Künstler, wenn er das auch ein wenig anders gemeint hatte. Wir sind nämlich schon Künstler allein dadurch, dass wir sehen.

An dieser Stelle übrigens irrte Platon, der uns mit seinem berühmten Höhlengleichnis einzureden versucht hat, unsere durch die Wahrnehmung erzeugte (und damit genau genommen virtuelle) Welt (in seiner Geschichte die Höhle, in die wir eingesperrt sind) sei nur ein schwacher Abglanz (er nennt es „Schatten“) der wahren Welt ausserhalb der Höhle. Soweit wir jedoch die Welt bisher haben erkunden können, die in unserer Wahrnehmung repräsentiert wird, verhalten sich die Dinge gerade umgekehrt: Die schöne, bunte Welt voller Wärme, Farben, Klänge Düfte und Gefühle ist in der Höhle, aussen sind nur Öde, Kälte, Farblosigkeit. Das jedenfalls lehrt uns die Physik.

Hier und heute aber soll vorwiegend von den Farben die Rede sein. Es versteht sich, dass die Welt nicht bunt ist, weil das so schön ist. Dass sie so schön ist, ist gewissermassen ein „Kollateralnutzen“. Tatsächlich sind die Farben da, weil sie arbeiten müssen, weil sie eine Aufgabe haben, nämlich die, die Struktur der Welt, ihre Gliederung in Figuren und Hintergründe besser erkennbar zu machen und damit zugleich das Handeln leichter und effektiver.

Das ist nicht schwer nachzuvollziehen, wenn man sich einmal ein Schwarzweissfoto eines reifen Kirschbaums oder eines abzuerntenden Erdbeerfeldes anschaut und dann eines in Farbe. Während sie im grauen Einheitsbrei kaum unterscheidbar sind, springen einen die roten Früchte aus dem grünen Laub buchstäblich ins Auge; denn Rot und Grün sind Gegenfarben, bilden also den grösstmöglichen Kontrast. Da ist leicht ernten.

Konstanzphänomene

Da die Wahrnehmung der Handlungssteuerung dient, versteht es sich auch, dass es nicht darum geht, die Welt vollständig und in allen Details, gar „objektiv“ abzubilden, es geht immer um das Ganze, darum, sich ein stimmiges Bild dieses Ganzen zu machen, um dann darin effektiv handeln zu können. Vor dem Hintergrund dieser Aufgabenstellung wird eine Reihe von Phänomenen verständlich, die in der Wahrnehmungspsychologie als „Konstanzphänomene“ beschrieben werden. Und nun kommen wir allmählich in die Nähe dessen, was sich auf den Bildern dieser Ausstellung abspielt. Um das zu verstehen, kann es von Nutzen sein, sich mit dem Phänomen der Helligkeitskonstanz zu beschäftigen.

Ein Stück Kohle in der Mittagssonne reflektiert mehr Licht als ein weisses Blatt Papier im Schein des Vollmondes. Dennoch nehmen wir die Kohle als schwarz, das Papier als weiss wahr. Was wir schwarz oder weiss sehen, bestimmt also nicht die absolute Menge des von einer Oberfläche zurückgeworfenen Lichts. Entscheidend ist vielmehr eine relative Menge, relativ zu der zum Zeitpunkt der Betrachtung bestehenden Lichtintensität. Was nur etwa fünf Prozent des vorhandenen Lichts reflektiert, sehen wir schwarz, was 80 bis 90 Prozent reflektiert, sehen wir weiss. Dazwischen liegen die Grautöne. Auf diese Weise ist dafür gesorgt, dass Helligkeit immer bezogen auf die aktuellen Lichtverhältnisse interpretiert wird und dass wir also sehen, was ja auch plausibel ist, dass Kohle schwarz ist und Papier weiss — und zwar unabhängig von wechselnden Beleuchtungsverhältnissen. Und das macht ja für die Alltagspraxis durchaus Sinn.

Kontext bestimmt die Farbe

Aber nicht nur die Lichtverhältnisse spielen für das Sehen von Farben eine Rolle, es gibt auch Interaktionen zwischen nebeneinander gesetzten Farbqualitäten. Vom Kontrast-Effekt zwischen Gegenfarben wie Rot und Grün oder Blau und Gelb war ja schon die Rede.

Dass wir Farben und Licht nicht „ausser Zusammenhang‘ sehen, nicht wie sie „an sich“ sind, sondern dass sie immer gewissermassen ein gemeinsames Schicksal haben, wie die Gestaltpsychologie das nennt, führt dazu, dass physikalisch gesehen gleiche Farbflächen in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich wahrgenommen werden können – und das unter Umständen sogar auf verschiedenen Teilen ein und desselben Bildes. Wie hell oder dunkel der gleiche Grauton jeweils gesehen wird, ob er einen Stich ins Rötliche oder Bläuliche bekommt, hängt ab von der Umgebung, in die er hineingemalt wurde. Solche Effekte wirksam in Szene zu setzen, gehört zum handwerklichen Können der konkreten Malerei. Um sich herum können Sie zahlreiche Beispiele dieses Könnens entdecken. Sie müssen nur dem Auge und dem Gehirn ein wenig Zeit lassen, um nach und nach wahrzunehmen, was da auf den Bildern geschieht – tatsächlich auch „geschieht“. Auch wenn man das gerade bei dieser eher gelassen in sich ruhenden Seidenschwanz- Werkgruppe nicht unbedingt vermuten würde, es gibt Bilder von Elena Lux-Marx, auf denen es einem scheinen kann, als wollten die Farben in Bewegung kommen, als wären sie es schon, immer gerade an den Stellen, die wir nicht genau fixieren. Es ist, als wolle sich das Unmögliche, die Scheinbewegung, dem analysierenden Blick beständig entziehen, um jeweils am Rande des scharfen Sehens wiederaufzutauchen.

All die beschriebenen Wirkungen resultieren nicht aus den verwendeten Farben als solchen, sind auch aus ihnen weder abzuleiten noch vorherzusehen, sie resultieren als emergente Eigenschaften aus den jeweils besonderen Zusammenstellungen von Farben und den sich daraus ergebenden Interaktions-Effekten. Sie können nur durch eine systematische empirische Erforschung entdeckt werden, zum Beispiel durch die Praxis der konkreten Malerei.

Die Ereignisse, von denen die Rede ist, finden freilich nicht in der physikalischen Welt statt. Da bewegt sich nichts, da gibt es keine messbaren Interaktions-Effekte. All das Beschriebene geschieht nur in der virtuellen Welt unserer Wahrnehmung, ist ein „Hirngespinst“ in einem ganz eigentlichen Sinne dieses Wortes. Aber genau solche „Hirngespinste“ sind Gegenstand der konkreten Malerei. Es geht ihr darum, die Dramatik dieses virtuellen Geschehens, des Aufeinander-Einwirkens, des gemeinsamen Schicksals mit ihren Mitteln zu erzählen. Diese „Bild-Geschichten“ von den Abenteuern der Farben und des Lichts sind, wenn man sich auf sie einlassen mag, nicht weniger spannend und unterhaltsam als Abenteuer von Prinzen in Zauberwäldern oder von Jungfrauen, die von Drachen entführt worden sind. Wir müssen nur lernen, sie zu lesen. 

Vortrag anlässlich der Ausstellung der Werkgruppe „Die Herzen des Seidenschwanzes“, Gutenswil, CH, 2011

Wolfgang Marx (Weidenau, D) Professor em. der kognitiven Psychologie der Universität Zürich. Seine Forschungsgebiete waren u.a. die Psychologie der Emotionen und die multimodale Wahrnehmung. Er veröffentlichte Beiträge in Kulturzeitschriften, fünf Romane (zuletzt „Am grauen Meer“, Zürich: Kameru, 2018), zahlreiche Erzählungen und Essays (zuletzt „Bewusstsein, Versuche über einen schlecht definierten Begriff, Würzburg: Königshauses & Neumann, 2016). Website: https://wolfgangmarx.jimdo.com