E. Grossmann: Entscheidungs- Gestaltungsakt

Elisabeth Grossmann

Sehen ist ein Entscheidungs- und Gestaltungsakt1

Die gebürtige Berlinerin, erst seit 1978 in Zürich wohnhaft, beschäftigt sich seit den 70er Jahren mit der Wahrnehmungsphysiologie der Farbe: „Farbe ist für mich wichtig, nicht Form. Farbe ist für mich zeitlos. Farbe an sich beginnt nicht irgendwo irgendwie und versinkt nirgends im Dunkel. Sie ist permanent und existierte schon, bevor die Welt zur Form wurde. Sie ist latent gegenwärtig in unserem Innern: im Wahrnehmungssystem des Menschen.“2 Ihr Werk schliesst einerseits an die Richtung der Op Art und ihre spezifische Wahrnehmunsgsirritation an, reduziert jedoch deren überwältigende Opulenz auf ein striktes Ordnungssystem, das dem vorherrschenden Interesse an der Farb- (und nicht der Raum)wirkung grösstmögliche Bewegungsfreiheit ermöglicht. Der Aufbau der Komposition basiert auf horizontalen und vertikalen Streifen unterschiedlicher Breite, die sich aus einzelnen Quadraten oder Rechtecken zusammensetzen und über sukzessive Farbtonveränderungen ein oszillierendes Netz erzeugen. „Am auffälligsten wird dies, wenn wir aus nächster Nähe die handwerklich minuziöse Aneinanderreihung von farblich nur minim unterschiedenen Rechtecken betrachten, die sich dann mit zunehmender Entfernung (und der intensiveren Interaktion der Farben im Sinne von Josef Albers) immer mehr zu einer immateriellen Lichtwirkung vermischen oder in oszillierende Bewegung versetzt werden. Dabei kann sich die allmähliche gegenseitige Durchdringung zweier benachbarter Skalen ebenso zu einem diffusen Grau verdüstern wie zu einer aggressiven Buntheit steigern, sich gleichsam in Nebelschwaden auflösen oder in exotischer Farbigkeit explodieren.3

In ihrer Farbgesetzuntersuchung zielt Elena Lux-Marx darauf, die „ko-kreativen“ Fähigkeiten des Betrachters zu aktivieren, indem sich dieser über den Akt des Betrachtens darüber bewusst wird, dass der Sehvorgang ein eigentlicher Gestaltungsvorgang ist: „Farbe entsteht im Kopf wie alle anderen Phänomene der Wahrnehmung auch. Sie sind Vereinbarungen, sozialisierte Muster und Stereotypien. Ich suche nach neuen Freiheiten für den Betrachter. Nach Farbwelten die ihn das ‚Stereotype seines Sehens‘ erkennen lassen […]. In dem Masse, wie es ihm gelingt, Farbdurchdringung und -auflösung, -überstrahlung und -unterordnung im Bild suchend und vergleichend nachzuvollziehen, erfährt er, dass Sehen ein Entscheidungs- und Gestaltungsakt ist.4 Wie eine Fährte legt sie ihren Bildern hie und da assoziative Titel unter, die auf ihre eigenen Sehvorgänge anspielen und über bestimmte Farbkonstellationen (z.B. „Fata Morgana“ aus Grün/Gelb/Orange/Blau) eine Stimmung oder Erfahrung andeuten, die das einzelne Bild bei der Künstlerin selbst evoziert. Es wird dabei keine Übereinstimmung mit der Empfindung des Betrachters vorausgesetzt, sondern im Verzicht auf „jede autoritäre Geste, auf jedes defintive So-ist-Es“5 dem Betrachter überlassen, sich in den Farbräumen frei zu bewegen und über die subjektive Erfahrung auf die eigenen Wahrnehmungsmuster zu schliessen. Die Farbe als energetisches Moment aufzuzeigen, ist Thema dieser Malerei. Dem Betrachter wird ein aktivierender und kreativer Freiraum erschlosssen, und er wird aufgefordert, über die geniessende und die reflektive Betrachtung der Werke am „Erfahrungsweg“ der Farbwelt und ihrer Modalitäten teilzunehmen.

zit. Lux-Marx, Elena „Zu meinen Bildern“ in: Hommage to the Square, Zürich 1993, S. 11
2 zit. Lux-Marx, Elena, a.a.O. 93, S.10
3 Kraft, Martin, Elena Lux-Marx, Zürich 1997, S. 5
4 zit. Lux-Marx, Elena, a.a.O. 93, S.11
5 zit. Lux-Marx, Elena, a.a.O. 93, S.11

Elisabeth Grossmann zu Elena Lux-Marx in: Regel und Abweichung Schweiz konstruktiv 1960-1997, Haus für konstruktive und konkrete Kunst, Buch als Schrift 27, Zürich 1997, S. 79